Tickets
← Zurück zur Übersicht

40!

40 Jahre Neuköllner Oper sind geprägt von den drei Künstlerischen Leitern, die dem Haus ein jeweils eigenes Profil gaben: Winfried Radeke, Peter Lund und Bernhard Glocksin.
Nachfolgend finden Sie Erinnerungen, Ein- und Rückblicke aus der jeweils persönlichen Perspektive von Peter Lund (1996 bis 2004) und Bernhard Glocksin (ab 2004).

Winfried Radeke (seit Gründung bis 2007) verfasst im Moment ein Buch über die ersten Jahre der Neuköllner Oper bis zu ihrem Einzug in die Neuköllner Passage 1988 („..die sollen ja ganz gut sein. Wie die Neuköllner Oper wurde“).

Winfried Radeke ist Komponist, Kapellmeister und Regisseur. Von 1977 an leitete er für viele Jahre das Collegium Musicum der Berliner Universitäten sowie von 1991-2004 die Chorwerkstatt Berlin.. 1977 gründete er die Neuköllner Oper, deren Direktorium er als künstlerischer Leiter 30 Jahre angehörte. Seine Fassung von Viktor Ullmanns Oper Der Kaiser von Atlantis (1989) gab den Anstoß zur Gründung des Vereins musica reanimata, in dessen Vorstand er tätig ist. Winfried Radeke schrieb u.a. 16 Opern, drei Oratorien, eine Symphonie, Chormusik und viele Lieder und Kinderlieder, zu denen er auch die Texte verfasste, ferner zahlreiche Bearbeitungen. Als Regisseur war er mit drei Produktionen am Opernhaus Halle tätig. Ausgezeichnet wurde er u.a. mit dem Deutschen Kritikerpreis sowie dem Bundesverdienstkreuz.

Peter Lund

Meine Neuköllner Oper und die U7

Zum ersten Mal stand ich auf der Bühne der Neuköllner Oper 1985. Auf der Suche nach einem Küchentisch. Im dritten Stock der Passage residierte zu dieser Zeit ein türkischer Second-Hand-Möbelhändler, und weil ich drei Wochen vorher in meine erste Studentenbude in die Richardstraße 19 gezogen war, war das die naheliegendste Adresse.

Ein toller Raum. Hinten im Bühnenraum hingen noch gemalte Prospekte mit blühenden Kirschbäumen und versuchten tapfer, Frühling zu verbreiten angesichts der traurigen Möbelware, von der ich einen Ausziehtisch für 25 Mark mit nach Hause nahm. Zwei Jahre später war dieses Möbellager dank Fördergeldern die Neuköllner Oper, und ich habe dort die Eröffnungspremiere Amphytrion gesehen, weil Sylvia Bitschkowski dort die Alkmene gab, während sie in meiner ersten Off-off-Theater-Regie die Adele in der Fledermaus probierte.

Ein halbes Jahr später brachte mich die klassische Berliner Wohnkarriere endlich nach Schöneberg, näher ran ans Westberliner Leben, und näher ran an die TU, wo ich damals Architektur studierte.
Ich war froh über meine neue WG und schwor mir, nie wieder U7 zu fahren.

Zwei Monate später rief Winfried Radeke mich an. Ich hatte mein erstes eigenes Stück an alle Theater Deutschlands geschickt (so kam es mir zumindest vor) und keiner hatte geantwortet. Nur Winni. Neugierig und begeistert reagierte er auf meine Idee, aus der Nazi-Operette Hochzeitsnacht im Paradies ein Backstage- Musiktheaterstück zu machen. Natürlich nicht gleich und sofort – aber diese Ermutigung dürfte der entscheidende Moment gewesen sein, dass ich kein mittelmäßiger Architekt geworden bin sondern ein glücklicher Regisseur und Autor.

Aber wie gesagt – nicht sofort. Erstmal kam die Anfrage, ob ich aus zwei Mozart-Fragmenten eine abendfüllende Oper zusammenschustern könnte. Also stieg ich wieder in die U7, und die Idee, wie aus Mozarts Resten ein toller Abend werden könnte, hatte ich- ehrlich!- fünf Minuten vor dem Treffen mit Winni, irgendwo zwischen Hermannstraße und Rathaus Neukölln. Ich bin seit diesem Tag noch sehr viel U7 gefahren.

Die Gans von Kairo war ein großer Erfolg. Und Der Spielverderber ein Jahr später ein noch größerer. Zumindest für mich, denn ich hatte zum ersten Mal selber ein Stück geschrieben, und das Publikum wollte es sehen. Das war ein gutes Gefühl. Und gab mir den Mut, trotz Diplom in der Tasche mich von der der Architektur zu verabschieden und es als freiberuflicher Regisseur zu versuchen.

Die Neuköllner Oper gab mir weiterhin die Möglichkeit, zu üben und besser zu werden.
Aurora und GluckGluckGluck waren Abende, zu denen ich einladen konnte, und ich fing an, in der sogenannten Provinz zu inszenieren. Die Möglichkeiten, aber auch die Sachzwänge des klassischen Stadttheaters irritierten mich. Soviel Potential! Und so oft so viel Alltag und Unlust. Der Neuköllner Virus des freien Theaters hatte mich doch schon infiziert. Ich beschloss, selber etwas auf die Beine zu stellen: Wir pfeifen auf den Gurkenkönig mit der damaligen Künstlerförderung, No Sex am Kama- Theater und Nero Kaiserkind mit freundlicher Unterstützung des Theater des Westens. Tolle Produktionen. Aber wie mühsam! Alles musste man alleine machen und verantworten. Ein einsames Geschäft. Als wir dann Nero Kaiserkind mehr als zwei Mal in Berlin zeigen wollten, war es wieder die Neuköllner Oper, die uns kollegial und mit Mut zum Risiko Asyl gewährte.

Während wir 1996 mit Nero in der NO gastierten – aus Geldmangel mit mir persönlich aus Darsteller auf der Bühne – fragte mich der damalige Geschäftsführer Jürgen Maier, ob ich Lust hätte, sein Nachfolger zu werden. Ich hatte über so eine Möglichkeit nicht im Traum nachgedacht und sagte sofort Ja.

Ab jetzt fuhr ich täglich mit der U7. Die folgenden zehn Jahre waren bestimmt die aufregendsten meines Lebens. Und die arbeitsintensivsten. Mit Ilka Sehnert, Niels Steinkrauss, Kerstin Iskra, Andreas Altenhof und vor allem immer wieder Winfried Radeke haben wir aus dem alten Gesellschaftshaus in der Karl-Marx-Straße alles rausgeholt, was im heutigen Musiktheater möglich ist. In einem Saal mit vier Meter Deckenhöhe, einer Probebühne, die im Sommer 50 Grad heiß wird und einer Werkstatt im 5. Stock.

Die Neuköllner Oper hat mich geprägt. Ein Stadtteil, in dem eine Oper der größtmöglich zu denkende Fremdkörper ist, mit finanziellen Mitteln, die uns immer gerade mal so in die nächste Spielzeit gerettet haben, mit einem Spielplan, der den Begriff „Volksoper“ wirklich ernst nimmt und einem Publikum, dass uns auch in die entferntesten Winkel der Musiktheaters gefolgt ist. Es war ein Fest. Und das ist es noch heute.

Theater ist nicht selbstverständlich. Das habe ich in Neukölln gelernt. Es gibt keinen Saal, der sagt: „Bespiel mich!“. Es gibt kein Publikum, das sagt „Ich erwarte!“. Es gibt kein Orchester, das ruft „Gib mir was zu spielen“. Und es gibt keinen Chor, der sagt „Wo muss ich stehen?“
Aber es gibt die Künstler, die sagen: „Ich will“. Und es gibt den Raum, der sagt „Ich bin groß genug.“. Alles andere liegt an uns. Niemand hat in Neukölln auf eine Oper gewartet. Aber alle sind froh, dass
es und gibt. Das war damals eine ziemlich gute Ausgangslage, und ist es immer noch.

Zwei Jahre zuvor hatte mich Peter Kock, der damalige Leiter des Studiengangs Musical, gefragt, ob ich Lust hätte, mit den Studenten zu arbeiten. Das hatte ich. Aber der erste Szenenabend war eine arg konventionelle Veranstaltung irgendwo zwischen My Fair Lady und Cabaret. Es hatte uns allen Spaß gemacht, aber Peter Kock sagte mir, er hätte von mir etwas mehr Frechheit erwartet.
Das saß. Für den nächsten Jahrgang entwickelte ich eine moderne La Bohème, viele Möchtegernkünstler auf einem Haufen, und zu Weihnachten ist das Geld alle, aber das Leben ist trotzdem schön.

Dieses Projekt ist nie etwa geworden. Aber ein Jahr später machte Jonathan Larson mit derselben Idee aus Rent einen Welterfolg – wir waren also auf der richtigen Spur. Aber gut Ding will Weile haben. Während wir mit den Studenten der UdK in den folgenden Jahren die Anfänge des Musicals mit Lady be good und Boys from Syracuse durchbuchstabierten, gelang uns 1998 mit dem Wunder von Neukölln von Wolfgang Böhmer der veritable Beweis, dass Neukölln absolut musiktheatertauglich ist. Die Geschichte einer Penny-Verkäuferin, die es schafft, mit einem behinderten Kind aus der Hartz-4 Falle zu entkommen, war eine Riesenerfolg und bescherte uns die öffentliche Aufmerksamkeit, die die Subventionen endlich in ein halbwegs gesundes Verhältnis zur Arbeit aller an der Neuköllner Oper Beschäftigten setzte.

Ich selber bin dann irgendwann von der Universität der Künste abgeworben worden. Ich fand das damals den richtigen Schritt. Das finde ich heute noch. Die Neuköllner Oper ist ein Nachwuchshaus und irgendwann muss man der Tatsache ins Gesicht sehen, dass man kein Nachwuchs mehr ist.

Aber zum Glück bilde ich Nachwuchs aus. Das gibt mir das Recht, einmal im Jahr mit meinen Studierenden an das Haus zurückzukehren, das meiner künstlerischen DNA am allermeisten entspricht. Mit Thomas Zaufke konnte ich hier Erwin Kannes machen und Mein Avatar und ich, mit Niclas Ramdohr Panik Sound Club und mit Wolfgang Böhmer Leben ohne Chris und Stimmen im Kopf.

Nirgends sonst finde ich diesen hochprofessionellen Einsatz, der sich keine Minute hinter Hochkultur und Fördermitteln versteckt, sondern das tut, was Künstler am besten können: Machen!
Die Neuköllner Oper ist jede Minute bereit, diesen ihren gesellschaftlichen Mehrwert zur Disposition zu stellen. Und in neun von zehn Fällen beweist sie diesen gesellschaftlichen Mehrwert mit Bravour.

Alle vier Jahre haben wir keinen Abschlussjahrgang, und in diesem Jahr gibt es keine studentische Musicaluraufführung. 2016 wäre ein solches Jahr gewesen. Just zu diesem Zeitpunkt fragte mich Bernhard Glocksin, ob ich nicht ein Stück ‚auf Halde‘ hätte. Das hatte ich in der Tat. Mit Stella – das blonde Gespenst vom Kurfürstendamm war ich bei vielen Theatern hausieren gegangen, und die zahlreichen Absagen waren zwar eine schöne Erinnerung an die Jugend, aber trotzdem ätzend.

Die Neuköllner Oper hat er trotzdem gewagt. Mit Wolfgang Böhmers Musik, mit Frederike Haas in der Hauptrolle, die schon 1993 beim Spielverderber dabei war, mit Hans-Peter Kirchberg zum ich weiß nicht wievieltem Male am Pult, mit Helmut Topp, der seit 25 Jahren unsere Bühnen baut und mit Regina Triebel in der Garderobe, die fast ebenso lange dafür sorgt, dass die Künstler pünktlich auf der Bühne stehen. Bestes Musical 2016 und noch fünf andere Preise war der Lohn. What can I say?

Es lohnt sich immer noch, die U7 zu fahren. Man muss bloß rechtzeitig an der Karl-Marx-Straße aussteigen.

Geboren 1965 in Flensburg, lebt und arbeitet Peter Lund seit 1987 als freischaffender Regisseur und Autor in Berlin. Zahlreiche Inszenierungen an deutschsprachigen Stadt- und Staatstheatern. Von 1996 bis 2004 Leitungsmitglied der Neuköllner Oper Berlin. Dort als Autor unter anderem die Musicals Das Wunder von Neukölln und Leben ohne Chris mit Wolfgang Böhmer, Die Krötzkes kommen! mit Niclas Ramdohr und seit 2000 mit Thomas Zaufke Babytalk, Elternabend, Grimm (Deutscher Musicalpreis 2015 für Bestes Buch), Stella (Deutscher Musicalpreis 2016 – „Bestes Musical“). Seine Stücke werden an zahlreichen deutschen Bühnen nachgespielt, sein Stück Hexe Hillary geht in die Oper entwickelte sich in den letzten Jahren zum heimlichen Renner des musikalischen Kindertheaters. Seit 2002 ist Peter Lund Professor am Studiengang Musical/ Show der UdK Berlin.

Bernhard Glocksin

123

Als ich hier 2004 anfange, steht da eine Zahl im Raum, die (sicher nicht nur) mich schwer beeindruckt: die 97! Denn genau 97 Musiktheaterstücke hatten die NO – Macher bis Januar 2004 auf die Bühne gebracht – und was für Stücke! Klar, das Beste davon will man fortführen! Doch mich reizt vor allem, das alles weiter zu treiben, das Spektrum zu erweitern: denn musikalisches Theater könnte ja auch noch anders klingen. Wer ließe sich dafür gewinnen? Wohin könnten uns andere Spielweisen führen? Und lasst uns Zusammenhänge schaffen, in der Vielfalt unseres Programms Linien und Schwerpunkte gestalten… das Haus weiter öffnen zur Stadt, seinen Szenen und Themen, uns vernetzen, auch unter den Teams der Macher, die am Haus sind und dazu kommen werden. So arbeiten wir für ein Musiktheater in zehn sagen wir mal „Sprachen“ oder Genres, über Jahre aufgebaut und weiterentwickelt.

Doch zurück in den Januar 2004: da starten wir also los, Andreas Altenhof, Miterfinder und Weggefährte von nun über 13 Jahren, die vielen, weil fleißig wechselnden Geschäftsführer, die anderen Kolleginnen und Kollegen… alles Individualisten im besten, produktivsten Sinne: mit dieser Neugier, die Neuköllner Oper weiter zu treiben über das, was sie in großartiger Weise schon ist.

Wie soll ich diese letzten 13 Jahre zusammenfassen? Vielleicht da, wo mein Herzblut fließt: mit der Lust auf unser großes Erbe Oper – so viele tolle Stücke, vergessen oder vergraben unter fragwürdigen Konventionen! Wie etwa Aleko, der Einakter, mit dem Rachmaninow 18-jährig sein Studium abschließt: eine heftige Liebesgeschichte unter sog. „Zigeunern“. Das müssen wir doch mit Sinti- und Roma zusammen machen! Also finden wir sie schließlich, diese wunderbaren Musiker, den Akkordeonisten Dejan Jovanovic, den Klarinettisten Michael Villanueva und Valeriu Cascaval, der mit seinem Zymbal eigens aus Molvadien anreist, anderthalb Tage und 1500 km mit seinem Pkw… zusammen schaffen wir den musikalischen Spagat zwischen Kunst- und Volksmusik, der großen spätromantischen Partitur, die kongenial Winni Radeke eingerichtet und leitet, und jener wilden „Gypsymusik“, die ohne Noten und Universitäten auskommt. …

Andere Erinnerungen zum Ausgraben vergessener Opern: Liebeserklärungen … als ich auf Nicolae Bretans Oper Golem stoße, 1924 in Rumänien uraufgeführt und seither vergessen, führt uns die Spur in die USA, zu seiner Tochter Judit, die das Notenmaterial schickt … und dann, vor Premierenpublikum (!) in heftige Liebeserklärungen ausbricht … 92-jährig…. die sollten, denke ich, eher dem Bariton Martin Gerke gelten: unvergesslich, wie er den lehmverschmierten Golem singt und verkörpert… … oder die Korrespondenz mit einer anderen, gleichfalls hochbetagten Dame, der Tochter des Komponisten Kosaku Yamada, der in Berlin 1910 bei Max Bruch Komposition studiert und die erste große japanische National-Oper schreibt: Kurofune/Okichi – niemand hier im Westen hat seine wunderbare Musik je gehört, geschweige denn aufgeführt… oder die Erinnerung an Emanuela Orlandi, die 1972 vom Vatikan entführt und von der Mafia umgebracht wird: fast verliere ich mich in ihre bis heute nicht aufgeklärte Geschichte, die sich wie die der Gilda in Verdis Rigoletto liest … Ich will ihr Schicksal auf unsere Bühne bringen, zusammen mit Verdis großer Musik, für Banda und Orgel eingerichtet, doch als ich zu Recherchen nach Rom fliege, warnen mich Journalisten: „Sie können die realen Namen nicht auf einer Bühne nennen!“… und als ich nach Unterstützung für ein Gastspiel frage, sagt man mir im Auswärtigen Amt: „Glauben Sie wirklich, dass der deutsche Staat eine Opernproduktion unterstützt, die den Vatikan kritisiert?“. Das war 2009, wir haben den Fall Rigoletto trotzdem gemacht, mit der wunderbaren Etta Scollo als einer hinzukomponierten sizilianischen Stimme – die erste investigative Oper der NO, mit einigem Aufsehen in den italienischen Medien und über 30 Vorstellungen.

2005 lerne ich Matthias Rebstock kennen und sein Ensemble leitundlause. Stilles und schrilles, verspieltes, intelligentes und assoziatives Theater der Musik und Musiker*innen – wie könnte solches an der NO funktionieren? 2006 rücken wir aus in den Plänterwald, Musikinstallationen vor den Zäunen des Vergnügungsparks… insgesamt entstehen sechs gemeinsame Stücke, alle zwei Jahre ein neues, wie Referentinnen, Schreberzone, Fernweh, zuletzt das Büro für postidentisches Leben als deutsch-spanisches Teamwork mit einer Uraufführung für das GREC Festival in Barcelona. (Da Matthias Rebstock zugleich Wissenschaftler und Hochschullehrer ist, liefert er dazu auch die entsprechende Forschung – composed theatre … Stücke, die vor allem durch und auf Proben entstehen als kollektiven Theaterprozess, nicht als Einstudieren vorab fertiger Partituren). Dieses „andere Arbeiten“ hat mich immer angezogen, und so wird die Neuköllner Oper auch ein Haus für solche Teams und Projekte, in ganz unterschiedlicher Weise: ob für Sommer Ulricksons Lovesick-Ensemble, für zahlreiche Grenzüberschreitungen in anderen, auch performativen Projekten, etwa mit singenden Puppen der Suse Wächter in Helden der Oper, oder den Opera Aliens von Damian Rebgetz oder dem wilden, skrupellosen Totaltheater der Julia Lwowski und ihres Teams, mit denen wir fünf Produktionen gestemmt haben, zuletzt ihre Version/Vision der Fledermaus.

Dann „die Türken“ – denn ist ein Opernhaus in Neukölln ohne (Deutsch- )Türken vorstellbar? 2008 finde ich Sinem Altan und ihre Künstlerfreund*innen ein, gemeinsam probieren wir Formate und Erzählweisen für ein türkisch- deutsches Musiktheater, es entstehen vier Stücke für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Stadt der Hunde wird mit dem „IKARUS“ Preis ausgezeichnet, bei Gastspielen in Zwolle und Utrecht gibt Sinem Workshops für interkulturelles Arbeiten… unvergesslich schließlich Tango Türk, das uns die Schönheit türkischer Tangos lehrt und ein türkischstämmiges und deutsches Darsteller- und Musikerteam miteinander wie nahtlos verschmelzt, übrigens in der Regie der Holländerin Lotte de Beer, die eine steile internationale Karriere gemacht

hat und heute über ein eigenes Ensemble verfügt…
Natürlich interessiert auch, die traditionellen Formen weiter voranzutreiben über die Beauftragung von Komponisten und Autoren. Neben den großartigen, immer wieder Neues suchenden Musicals von Peter Lund, Wolfgang Böhmer und Thomas Zaufke finden wir weitere neue Komponisten, die unsere Liebe zu einer undogmatischen, offenen und nicht-elitären Musik teilen, Jan Müller-Wieland etwa, der mit Fanny und Schraube eine ergreifende Neukölln-Oper schreibt. Oder Arash Safaian, der Exit Paradise komponiert zu einem Text von Uta Bierbaum, die wiederum eine Entdeckung aus einem unserer Workshops ist. Denn Autoren für das Musiktheater muss man entwickeln, also tun wir das, zusammen mit Feridun Zaimoglu, dem Freund und illustren Dichter türkischer Herkunft … Überhaupt das Entdecken und Entwickeln von Talenten- eine Leidenschaft! Und das Erfinden neuer Programme dazu… „Durch die Nacht mit Zaimoglu“, „Nacht der Regietalente“, neben den erfolgreichen Kooperationen mit der UdK und dem mittlerweile international aufgestellten „Berliner Opernpreis“.

Aber zurück zu Arash Safaian. Zum 50. Jahrestag der Erschießung von Benno Ohnesorg findet die Uraufführung von Der Schuss 2.6.1967 statt, wieder eine ausbalancierte Mischform von Schauspiel, Oper und Film, dessen Bilder von Vincent Stefan sich ins Gedächtnis brennen so wie die Klangtürme von Arash Safaian, kongenial gespielt vom Ensemble Adapter (die nun auch zu den Freunden und Förderern der NO gehören). Und wie Arash, der kürzlich mit dem Klassik-Echo ausgezeichnet wurde.

Als 2010 in Athen die erste Bank in Flammen aufgeht und die sog. Griechenland-/EU- Krise auflodert, wollen wir griechische Theatermacher zu einer gemeinsamen Arbeit einladen. In Athen treffe ich Alexandros Efklidis und seine Kollegen, die dort eine alternative Opernkompagnie betreiben, und wir entwickeln unser Stück zur Krise – Yasou Aida, die Geschichte der Griechin Elpida in der Europäischen Zentralbank mit der Aida-Musik von Verdi, gesungen von Griechen und Deutschen… die Uraufführung in Berlin geht durch internationale Medien, arte, BBC, Le Monde berichten. Dank der Arbeit von Andreas Altenhof und Christian Römer können wir Yasou Aida auch in Thessaloniki zeigen, diesmal tatkräftig vom Auswärtigen Amt unterstützt – dort ein spektakuläre Erfolg, der der Produktion sofort auch eine Gastspieleinladung zum Athen-Epidauros-Festival einbringt mit vier ausverkauften Vorstellungen und intensiven Diskussionen in Stadt und Land. Großartig, was engagiertes Musiktheater bewirken kann, auch und gerade hier. An diesen Abenden in Athen denken wir glücklich: Besser und mehr geht nicht …
Und doch, mehr geht immer, die griechische Kooperation zeigt uns: die Neuköllner Oper kann nicht nur was in Berlin, sondern weit darüber hinaus. Also neue Idee: über den regulären Spielbetrieb hinaus veranstalten wir Internationale Festivals, durch die sich ab 2010 regelmäßig Akteure der freischaffenden Musiktheaterszene aus ganz Europa in Berlin präsentieren können. OpenOp, das erstes Festival, zeigte Gruppen zwischen Talinn und Skopje, mit einem zweiten und dritten Festival fokussierten wir auf Produktionen und die Lebens- und Arbeitsumstände von Musiktheatermachern in Südeuropa, dieser gefährdeten Flanke der EU. Mit vielen Künstlern, die wir nach Berlin bringen, arbeiten wir seither intensiv zusammen, jedes Jahr zumindest eine internationale, gemeinsame Theaterarbeit. Mit Balletto civile, der preisgekrönten Gruppe aus Italien nun zum dritten Male, und das Experiment Internationales Musiktheater geht weiter…

Heute, im November 2017 spielen wir die 220. Ur- und Erstaufführung. 123 Stücke sind dazugekommen, ein Großteil davon habe ich erfunden und mit Teams zur Uraufführung gebracht. Das alles ist nur dank der Kollegen*innen der NO möglich gewesen, durch ihren Einsatz und die Neugier, unser Theater mit jeder Premiere auch ein Stück neu zu denken. Und dabei die Nerven zu bewahren – denn ob all das klappt, was man angeht, entscheidet sich ja wirklich erst im Moment der Premiere. Doch ist ein Uraufführungstheater ohne dieses Risiko zu haben? Dafür bin ich allen dankbar, die „die NO sind“ und allen, die uns als Publikum begleiten. Die Berliner Theaterlandschaft ist heute grundlegend anders als 1980 oder 2004, die Neuköllner Oper ist umgeben von alternativen Spielorten und Gruppen, die ihre Version von Musiktheater anbieten. All dieser Konkurrenz zum Trotz ist die Neuköllner Oper kontinuierlich gewachsen, und nicht nur im Zuspruch und Budget, mit dem der Senat das Haus unterstützt. Die NO ist heute mehr denn je eine Ankerinstitution in Berlins üppig- dynamischer Theaterszene, ein Talente-Generator, ein Haus der Inklusion in einer diversen Stadt und ein Ort der Internationalen Beachtung und Zusammenarbeit. Und, das wäre mein größtes Anliegen, vor allem ein offenes, lustvolles Musiktheater-Labor für neue Generationen von Machern und – Zuschauern.
Bernhard Glocksin war Dramaturg und Chefdramaturg für Musiktheater, Schauspiel und Tanztheater in Hannover, Zürich, Salzburg und Mainz. 1999 –2002 Chefdramaturg/stellvertretender Intendant am Deutschen Theater in Göttingen. In dieser Zeit initiierte er zahlreiche Uraufführungen und Autoren-Projekte, u.a. mit T. Dorst, F. Richter, R. Schimmelpfennig, J. von Düffel, L. Hübner. Er schrieb Libretti für Musiktheater – Uraufführungen in Salzburg, Wien, Stuttgart und Amsterdam. Für die Neuköllner Oper schrieb er Stücke und Adaptionen und führte auch Regie. Nebenher ist er freischaffend als Juror (Hamburg, Amsterdam, Berlin), Projektmacher (Berlinale; HKW) und Lehrbeauftragter (Zürich, München, Weimar, St. Gallen, Kopenhagen, Berlin) tätig.

Diese Website verwendet Cookies - nähere Informationen dazu und zu Ihren Rechten als Benutzer finden Sie in unserer Datenschutzerklärung am Ende der Seite. Klicken Sie auf „Ich stimme zu", um Cookies zu akzeptieren und direkt unsere Website besuchen zu können.

Nur essenzielle Cookies