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Interview mit Olivia Stahn: THE PRESENT RETTET DIE WELT

Olivia Stahn studierte Gesang in Lübeck und Berlin. Engagements führten sie u.a. an die Staatsoper Hannover, das Staatstheater Stuttgart, zu den Dresdner Musikfestspielen, an das Konzerthaus Berlin, zum Bachfest Leipzig und die Schwetzinger Festspiele. Regelmässig singt sie an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin und trat mehrfach beim Lucerne Festival unter Pierre Boulez auf. Aufnahmen entstanden für Wergo, cpo und das Berliner Label Corinne De Berne. Sie ist Mitbegründerin von THE PRESENT und hat gemeinsam mit Hanna Herfurtner und Amélie Saadia die künstlerische Leitung des Ensembles inne.

Wie begann das Projekt THE PRESENT RETTET DIE WELT und wie hat es sich entwickelt?
O.S.: 
Hauptsächlich Hanna, Amélie und ich konzipieren die Projekte für THE PRESENT. Wir haben uns schon länger mit dem Thema Klima – Klimakrise beschäftigt. Dann haben wir uns für das reload-Stipendium der Bundeskulturstiftung beworben und dieses auch bewilligt bekommen. Wir haben zunächst, auch schon gemeinsam mit der Regisseurin und Autorin Therese Schmidt, die auch jetzt dabei ist, sehr viele Bücher zu Klima und Klimakrise gelesen, recherchiert und mit Wissenschaftler*innen gesprochen (nachzuhören sind diese Gespräche als Podcast/Anm. d. Red.). Die Neuköllner Oper interessierte sich für das Projekt, und so wurde es konkret.

Können Sie bitte etwas zum Inhalt des Projektes und den einzelnen Teilen sagen? 
O.S.:
 Die drei Teile des Abends gehören schon zusammen – es ist sozusagen ein Drei-Stufen-Programm, sie können aber auch einzeln besucht werden. Der Titel des ersten Teiles CRY MY A RIVER bezieht sich auf den Pop-Song von Justin Timberlake, der zweite Teil auf den Titel WORK, BITCH von Britney Spears. Beide Titel werden in den jeweiligen Abenden auch musikalisch verarbeitet. 
CRY ME A RIVER handelt vom Scheitern. Wenn wir als Menschen mit dem Klimawandel umgehen und diese Herausforderung bestehen wollen, muss es Transformation, inneres Umdenken geben. Wir brauchen eine Werteverlagerung und neue Perspektiven des Zusammenlebens. Das Gefüge Individualismus-Freiheit muss neu gesehen werden. Dafür brauchen wir einen anderen Blick. Um diesen Prozess zu beginnen, müssen wir loslassen: trauern um das, was wir nicht mehr so haben können. Trauern auch um das, was wir Menschen vermasselt haben. Eine musikalische Tränenflut versinnbildlicht diesen psychologischen Prozess. In allen Texten der musikalischen Stücke geht es um Tränen.
WORK, BITCH hat den Veränderungsprozess zum Thema. Es ist ein „Training“. Um sich zu verändern, muss man neue Haltungen und Gewohnheiten „üben“, wiederholen. Auch die verwendete Musik wird verändert. Wir arbeiten hier mit Verstärkung und Elektronik.
FOUNTAIN OF JOY steht für die Hoffnung, dass wir etwas erreichen können. Die Sänger*innen treten in diesem Teil noch weiter als klassisches Vokalensemble zurück. Es geht um das Hören auf das, was in der Natur an Klang schon da ist – als Metapher für „es gibt schon ganz viel, auf die Fülle können wir uns verlassen“. Die natürlichen Zyklen und ihr Widerspruch zu den Wachstumszwängen des Wirtschaftssystems sollen sinnlich erlebbar gemacht werden.

Wie entsteht die Musik für Ihre Projekte? Gibt es jemanden in Ihrem Team, der für dieses Projekt „den Hut auf hat“?
O.S.: 
Wir verwenden Musik aus allen Jahrhunderten der Musikgeschichte: Mittelalterliches, Musik der Spätrenaissance, Neue Musik (z.B. von Lucia Ronchetti und Alvin Lucier), Pop-Songs und auch mal einen Schlager von Helene Fischer oder Bezüge zur Musik von John Cage. Die für unser Ensemble maßgeschneiderten Arrangements macht Amélie, für zwei andere Projekte engagiert sich jetzt auch Tim Karweick, unser anderer Tenor, auf diesem Gebiet. In THE PRESENT RETTET DIE WELT kommen auch Instrumente zum Einsatz, die von den Sänger*innen gespielt werden.

An welchen Orten werden die drei Teile von THE PRESENT RETTE DIE WELT aufgeführt? 
O.S.:
CRY ME A RIVER machen wir in der Kiezkapelle auf dem Neuen St. Jacobi Friedhof. Der Bezug zum Thema „Tränen“ legt das nahe. WORK, BITCH wird auf dem Gelände Floating Berlin, früher Floating University Berlin, stattfinden. Das ist das Regenwasser-Rückhaltebecken des ehemaligen Flughafens Tempelhof am Columbiadamm. Das Gelände hat einen gewissen Arbeits-Aktivismus-Charakter und passt zum Thema dieses Teils. Und für FOUNTAIN OF JOY entführen wir das Publikum in den Spreepark, das alte Vergnügungspark-Gelände im Plänterwald. Die Reste der MERO-Halle werden unser Spielort sein. Das verwilderte Gelände und die Natur geben uns die optimale Kulisse für diesen Abend.

Wie ist das Ensemble THE PRESENT entstanden?
O.S.: 
Amélie, Hanna und ich kennen uns schon sehr lange. 2017 haben wir ein Projekt für die Schwetzinger Festspiele gemeinsam gemacht. Die Idee zu dem Abend DIE WAHRHEIT UND DAS LEBEN, in dem Luciano Berios A-Ronne und Motetten von J. S. Bach miteinander verschränkt wurden (2019 bei den Schwetzingen Festspielen aufgeführt), hat uns dann als Ensemble in der heutigen Form zusammengebracht. 

Was liegt Ihnen als Vokalensemble THE PRESENT und Ihnen persönlich als Olivia Stahn künstlerisch besonders am Herzen?
O.S.: 
Als Ensemble wollen wir Neue und Alte Musik in einen anderen Kontext setzen, als das normalerweise in Konzerten geschieht. Wir wollen im abstrakten und konkreten Sinne das Publikum auch sinnlich einladen und mitnehmen, Kontraste zu erleben.
Mir selbst ist es wichtig, mit der Musik Inhalte zu vermitteln, die über die reine Musik hinausgehen. Ich habe ehrlich gesagt, wenig Lust auf Konzerte nach Schema F. Man muss sich für die Musik selbst interessieren, um aus traditionellen Strukturen heraus zu kommen. Dabei darf man sich nicht allzu sehr um bestehende Grenzen scheren.

Das Gespräch führte Magdalena Weidauer. In gedruckter Form erschien der Text im März 2022 in NoWumm, der Mitgliederzeitung des Neuköllner Oper e. V.

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